Auszug aus "Die Nachtburg", Teil 3 von "Das Tor der Dunkelheit"



Sie hatte wahrscheinlich stundenlang hier gesessen, jedenfalls war ihr Körper völlig verkrampft. Unglaublich, was die Magier einst vermocht hatten. Es schien wirklich zu stimmen: Magie konnte alles möglich machen, wenn man nur in der Lage war, es sich vorzustellen. In ausreichendem Detail natürlich. Das Problem war, auf manche Dinge kam man einfach nicht so von selbst. Sie senkte den Blick wieder auf das Buch. Dieser letzte Zauber, der sie so verblüfft hatte, daß sie sogar ihre fieberhafte Lektüre unterbrach, ließ sich leicht ausprobieren. Es würde sie allerdings einige Überwindung kosten, das wußte sie jetzt schon.
Durna stand auf und ging hinüber zu dem übermannshohen Spiegel, der an einer Wand des Labors befestigt war. Sie hatte bisher noch nicht herausfinden können, wozu die Alten ihn gebraucht hatten – bestimmt nicht, um den Sitz ihrer schwarzen Roben zu überprüfen!
Spiegel haben viele Verwendungsmöglichkeiten ... murmelte die fast unhörbare Geisterstimme der Wände.
›Sicher‹, dachte Durna. ›Aber ich habe noch nie von dieser hier gehört.‹
Sie flüsterte ein Wort, das dennoch laut und häßlich durch den Raum hallte. Dann berührte sie die makellose Oberfläche des Spiegels. Um ihre Fingerspitzen zogen sich feine Wellen. Sie schloß die Augen und preßte ihr Gesicht gegen sein Spiegelbild. Kälte überzog ihren ganzen Körper. Erst als das Gefühl verschwunden war, trat Durna zurück und öffnete die Augen, genau wie in dem Buch vorgeschrieben.
Fast hätte sie aufgeschrien. Sie blickte in eine spiegelnde Maske ohne Gesicht und Kontur. Über ihrem Kragen saß ein eiförmiges, spiegelndes Ding, das von zerrauften kurzen Haaren gekrönt war.
»Wordon mé!« flüsterte sie. Der Fluch war deutlich zu hören. Sie hatte keine Schwierigkeiten beim Atmen, Sprechen oder Sehen, doch die Maske war durchaus substanziell, wie sie bei einer vorsichtigen Berührung feststellte. Dabei bemerkte sie ihre silbernen Finger.
›Schade, daß gerade kein feindlicher Magier bei der Hand ist‹, dachte sie, denn der Zauber diente zur Abwehr jeder beliebigen gegnerischen Magie. ›Aber man kann nicht alles haben.‹
Nun mußte sie nur noch den Rest des Zaubers vollenden, um die spiegelnde Maske wieder loszuwerden. Sie sprach ein zweites Wort, das tief im Hals kratzte, und hielt ihre Hand waagerecht. Mit einem Kribbeln floß die Silberhülle über ihre Haut und sammelte sich in einer Kugel auf ihrer Handfläche. Schnell zog sie mit der Linken den kleinen Dolch, den sie am Gürtel trug, und ritzte den rechten Handballen, so daß sich ihr Blut mit dem Spiegelsilber mischen konnte. Die Kugel wurde augenblicklich fest und schwer.
Geistesabwesend heilte Durna den Schnitt in ihrer Hand. Wenn das Buch Recht hatte, war diese Kugel ein mächtiger Verteidigungszauber, den sie bei sich tragen und immer wieder aufrufen konnte. Außerdem dürfte es einen Feind schockieren, sie auch nur mit der Spiegelmaske zu sehen. Sehr nützlich.
Solange du auf keinen triffst, der sich auch eingespiegelt hat.
Die Wand. Natürlich.
Aber das ist heutzutage wohl kaum anzunehmen. Früher gab es Vorfälle, bei denen ganze Landstriche verwüstet wurden, weil sich zwei unverletzliche Magier im Kampf gegenüber standen.
»Darum gibt es heute auch so wenig mächtige Zauberer.« Durna steckte die Kugel in einen Lederbeutel und schlug das Buch zu, in dem sie so lange studiert hatte. Es wurde Zeit, sich wieder den Vorgängen in der Außenwelt zuzuwenden.
Der große Wandspiegel stand unberührt glänzend da, als habe er nicht gerade ein wenig von seiner Substanz gespendet, bemerkte sie beim Hinausgehen. Sie warf ihm ein Lächeln zu, dachte sie doch daran, zu was für anderen Dingen er vielleicht noch zu gebrauchen war.
Sie sah nicht, wie ihr Lächeln entgegen jedem Gesetz einer Spiegelung noch für einen Moment hängen blieb, bevor so etwas wie ein hauchdünner, blutiger Schleier die Klarheit der Spiegeloberfläche kurz eintrübte und es verschwand.